„Auf Anregung des Herrn Dr. Wiegand1Dr. med. Conrad Wiegand (1835-1896), Vater des Archäologen Theodor Wiegand (1864-1936) in Bendorf beschloss ich im Jahre 1870, israelitische Nerven- und Geisteskranke in mein im Flecken Sayn belegenes Haus aufzunehmen und sie hier nach den ärztlichen Anordnungen zu behandeln und zu versorgen, “ schreibt Meier Jacoby (1818-1890) in seinem 1877 erschienenen ersten „Bericht über die Wirksamkeit der Privat-Heil- und Pflegeanstalt für israelische Nerven- und Geisteskranke… zu Sayn bei Coblenz“. In einer Anzeige der „Allgemeinen Zeitung des Judenthums“ aus dem Jahre 18692Allgemeine Zeitung des Judenthums (1869), Heft 6, Seite 115. werden der Arzt der Anstalt und der Hausverwalter, Rabbinatskandidat Berg, als diejenigen genannt, an die Anmeldungen für die zu errichtende Anstalt gerichtet werden sollen.
Als das genannte Haus zu klein wurde, erwarb Jacoby „ein zwischen Sayn und Bendorf gelegenes, von einem großen Garten umgebenes Gebäude“.3Nach Behrendt/Rosenthal (1913), S. 427, geschah dies im Jahre 1873. Bisher waren wir der Meinung, die Anstalt sei erst nach dem Umzug von der Mittelgasse (heute Nr. 7) in die heutige Koblenz-Olper-Straße gegründet worden. Erst die Kenntnis des Berichts aus dem Jahre 1877 gab hier Klarheit; denn der dort von Meier Jacoby verwendete Begriff „Flecken Sayn“ bedeutet Alt-Sayn.4Frau Prof. Dr. Christine Vanja machte uns dankenswerterweise die Berichte der Jahre 1877, 1888, 1890 und 1894 zugänglich, die sich in den Beständen des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen in Kassel befinden. Den im April 1886 erschienenen, uns fehlenden Bericht entdeckte Frau Renate Rosenau 2013 in The Central Archives for the History of the Jewish People Jerusalem (CAHJP), Bestand P 72, Familienarchiv Jacoby. Es ist auch möglich, dass Jacoby schon in der Gründungsphase an die Engerser Landstraße (Nr. 3) umzog, da dieses Haus in einem Revisionsbericht vom 14.12.1872 als gemietetes Haus bezeichnet wird und die Rede davon ist, dass der Umzug „nach einem an der Berliner Straße (Koblenz-Olper-Straße) neu construierten Hause“ geplant sei. Im Bericht wird Meier Jacoby als Lehrer, geboren in Mogendorf, bezeichnet. Der mündlichen Überlieferung nach hatte er in der Mittelgasse eine Metzgerei betrieben.5Mitteilung von Therese Siebert (1914-1999), die von ihrer Mutter wusste, dass ihre Familie das Haus Mittelgasse 7 von Jacobys erworben hatte. Meier Jacoby war um 1850 aus Mogendorf/Ww. nach Sayn gekommen, hatte zunächst als Metzger gearbeitet und nebenbei jüdische Kinder unterrichtet. Eventuell war er Kantor oder er unterrichtete in der Synagogengemeinde Bendorf und Sayn.6Laut Revisionsbericht des Gesundheitsamtes Koblenz vom 28.02.1885 war er Kaufmann und fungierte längere Zeit als israelitischer Lehrer in Bendorf-Sayn, was damals nicht den heutigen Ortsteil Bendorf-Sayn, sondern die getrennten Orte Bendorf und Sayn bezeichnete. (Landes-hauptarchiv Koblenz, Bestand 441, Nr. 13369, S. 297)
Das Amt eines Kantors oder eines jüdischen Religionslehrers kann er nebenamtlich betrieben haben.7Der in Koblenz amtierende Rabbiner Dr. Moritz Singer schrieb dazu 1896, die Lage des jüdischen Religionsunterrichts in der Rheinprovinz sei trostlos, weil viele jüdische Religionslehrer zusätzlich als Kantoren, Schächter, Beschneider oder in noch anderen Ämtern tätig seien und deshalb oft nicht genügend Zeit für den Unterricht hätten. (vergl. Hildburg-Helene Thill: Lebensbilder jüdischer Koblenzer, Koblenz 1987, S. 106 So wundert es uns nicht, dass Meier Jacoby selbst die Gottesdienste in seiner Anstalt leitete. Ab und zu kam ein Rabbiner, um Vorträge zu halten.8LHA Koblenz 441, 13369, S. 680
Die Jacoby’sche Anstalt entstand 21 Jahre später als die Dr. Erlenmeyer ’sche und 13 Jahre nach der Dr. Brosius’schen Einrichtung. Über seine Motive zur Gründung sagt Meier Jacoby: „Durch den häufigen Verkehr mit den Angehörigen der in den Anstalten des benachbarten Bendorf untergebrachten israelitischen Geisteskranken und mit diesen selbst wurde in mir der Entschluss wach gerufen, ein Asyl für Geisteskranke israelitischer Religion zu errichten, in dem die Patienten rituelle Verpflegung erhalten sollten und ungenirt ihre Bräuche befolgen könnten. Haute ich doch oft gehört, dass die in streng jüdischen Häusern aufgewachsenen Kranken nur mit Widerwillen nicht koschere Kost genießen, dass sie solche Nahrung wohl ganz verweigern oder sich durch den Genuss der Speisen zu versündigen glauben, dass sie namentlich von weniger gebildeten Patienten und Wärtern wegen ihres Glaubens verspottet und gehänselt werden etc. – Umstände, die Nerven- und Gemüthskranke gewiss ungünstig beeinflussen müssen.“9„Fünfter Bericht der Israelit. Heil- und Pflege-Anstalt für Nerven- und Gemüthskranke zu Sayn bei Coblenz am Rhein über ihre Tätigkeit vom 1. Januar 1890 bis 31. Dezember 1893*, Koblenz 1894, S. 4. Die Akte LHA Koblenz 655,64, Nr. 613 enthält auf S. 893 die Mitteilung vom 30.07.1871, vor längerer Zeit sei in der Erlenmeyer’schen Anstalt ein gemütskranker gewisser Löwenberg aus Berlin gestorben, der auf dem Bendorfer Jüdischen Friedhof beigesetzt worden sei.
Als Dr. Wiegand 1874 Bendorf verließ, berief Jacoby den jüdischen Arzt Dr. Salomon Behrendt (1846-1912) zu dessen Nachfolger.
In den ersten Jahren nach der Gründung gab es nur wenige Patienten, weil die Räumlichkeiten nicht viel Platz boten und weil die neue Einrichtung noch nicht sehr bekannt war. Zwischen 1871 und 1876 wurden 15 Männer und 12 Frauen aufgenommen. Wir wissen aber nichts über deren Verweildauer.’° In den Jahren 1886 und 1887 wurden 83 Kranke neu aufgenommen, davon waren 65 aus Deutschland, 13 aus den Niederianden, 2 aus England, 2 aus Russland und 1 aus Österreich. Von den in den Jahren 1890 bis 1893 neu aufgenommenen 156 Patienten kamen 124 aus Deutschland, 16 aus den Niederlanden, 5 aus England, 4 aus Österreich-Ungarn, je 3 aus Russland bzw. aus Belgien, einer aus der Schweiz.
Für diese 156 Patienten werden folgenden Krankheitsformen angegeben:
I Einfache Seelenstörung: 110 (66 Frauen, 44 Männer)
II. Paralytische Seelenstörung: 9 (1 Frau, 8 Männer)
III. Seelenstörung mit Epilepsie: 7 (3 Frauen, 4 Männer)
IV. Imbecillität und Idiotie: 30 (13 Frauen, 17 Männer).
Zu den unter IV. genannten Personen gehörten auch 4 Jungen und 2 Mädchen, die in der Kinderabteilung der Anstalt untergebracht waren. Diese befand sich außerhalb des Anstaltsgeländes, aber in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft (heutige Hausnummer 31).“ In einem Revisionsbericht der Medizinalabteilung der Bezirksregierung Koblenz von 1885 werden 14 „Kinder“ genannt, deren Alter wird aber als „zwischen 6 und 19 Jahren“ liegend angegeben. Die erste Aufnahme erfolgte 1882’2
Bentheim, ein junger jüdischer Lehrer, habe die Kinder unterrichtet, die einen verhältnismäßig vorteilhaften Eindruck machten. Auf einzelne Fragen aus der biblischen Geschichte hätten sie kurze, richtige, deutliche Antworten gegeben. 13
Im Bericht über die am 14./15. August und am 15. Oktober 1888 durchgeführten Revisionen heißt es, die Kinderabteilung, an anderer Stelle Abteilung für idiotische Kinder genannt, habe 14 mögliche Plätze. Aufgenommen waren zu diesem Zeitpunkt nur noch 9 Kinder, die von zwei Wärterinnen betreut wurden. Der Lehrer bewohnte innerhalb der Abteilung ein Zimmer. Die Kinderabteilung hatte einen eigenen Schulsaal und einen geräumigen Spielplatz. Den Unterricht besuchten zeitweise auch einige ruhige männliche Kranke, denen „angeborener Schwachsinn“ attestiert’4 wurde. Albrecht Erlenmeyer fügte schon 1848 seiner Bendorfer Anstalt eine eigene Abteilung für Kinder und Jugendliche an, die in ihrer geistigen Entwicklung retardiert waren. Er glaubte, „dass einzelne Idioten geheilt, d.h. zur bürgerlichen Selbstständigkeit gebracht werden können“. Is Erlenmeyer bezeichnete Idiotie als eine Krankheit, deren Heilung möglich sei, wenn man den Patienten zu einer gesunden Lebensweise mit richtiger, ausgewogener Ernährung, u. a. mineralstoffreichem Trinkwasser, ver-helfe. Hinzukommen müssten gymnastische Ertüchtigung und bauliche Bedingungen, die eine Unterbringung wie in einem Familienleben ermöglichten. Jacoby hat sicherlich die Bildung kleiner Gruppen von Patienten auf Erlenmeyers Argumente gegen zu große Anstaltskomplexe und gegen „Massenpflege“ gegründet. 16
Die Kinderabteilung hatte keinen langen Bestand. Über die Gründe schreibt die „Allgemeine Zeitung des Judenthums“ in ihrer Beilage „Der Gemeindebote“ unter dem 8. Juli 1894: „Die Anstalt besitzt auch eine Kinderabtheilung, die indeß bisher nur pekuniäre Nachtheile gebracht hat. Die meisten Aufnahmegesuche gehen von unbemittelten Leuten aus, welche in Folge ihrer Beschäftigung ein geistig und körperlich zurückgebliebenes Kind gern in einem Institut unterbringen möchten, während besser situirte Familien ihr idiotisches Kind zu Hause behalten und in der Lage sind, demselben ein besonderes Zimmer einzuräumen und eine eigene Wärterin zu nehmen.“17
Die Kinderabteilung wurde schon bald geschlossen; der Handbuchartikel von 191318 erwähnt sie nicht mehr. Die Probleme, die die Finanzierung bereitete, sollten sich aber bald auch in den anderen Abteilungen zeigen.
Trotz oder gerade wegen knapp bemessener Tagessätze wurde 1898/99 das aufwändige „Kurhaus für Nervöse“ an der Koblenz-Olper-Straße errichtet, um zahlungskräftigere Patienten anzuziehen. Ebenfalls 1899 erfuhren die Erlenmeyer’schen Anstalten eine erhebliche Vergrößerung des Geländes mit Um- und Neubauten. Die Anstalten im Zentrum von Bendorf und Waldesruhe im Wenigerbachtal wurden völlig umgebaut und mit neuen Badeanlagen und Luftheizung versehen. Die große, luxuriös wirkende Brosius’sche Villa Sayn war für nur 6-8 Damen bestimmt, speziell auch für Ferienaufenthalte für nervöse Mädchen, die noch die Schule besuchten,’* Töchter aus reichem Hause. Die Colmant schen Anstalten warben 1905 für ihre „Villa Flora“ mit den Worten, das neue schlossartige Gebäude in freier, gesündester Lage, mitten zwischen Parkanlagen, Blumen- und Obstgärten und mit herrlichster Fernsicht auf das Rheintal und die schöne Umgebung sei nur für nerven- und gemütskranke Damen der besseren Stände bestimmt2º So war den privaten Heilanstalten gemeinsam, dass die höheren Pflegesätze in eine Mischkalkulation mit den niedrigeren eingebracht wurden.
Anmerkungen / Notes
- 1Dr. med. Conrad Wiegand (1835-1896), Vater des Archäologen Theodor Wiegand (1864-1936)
- 2Allgemeine Zeitung des Judenthums (1869), Heft 6, Seite 115.
- 3Nach Behrendt/Rosenthal (1913), S. 427, geschah dies im Jahre 1873.
- 4Frau Prof. Dr. Christine Vanja machte uns dankenswerterweise die Berichte der Jahre 1877, 1888, 1890 und 1894 zugänglich, die sich in den Beständen des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen in Kassel befinden. Den im April 1886 erschienenen, uns fehlenden Bericht entdeckte Frau Renate Rosenau 2013 in The Central Archives for the History of the Jewish People Jerusalem (CAHJP), Bestand P 72, Familienarchiv Jacoby.
- 5Mitteilung von Therese Siebert (1914-1999), die von ihrer Mutter wusste, dass ihre Familie das Haus Mittelgasse 7 von Jacobys erworben hatte.
- 6Laut Revisionsbericht des Gesundheitsamtes Koblenz vom 28.02.1885 war er Kaufmann und fungierte längere Zeit als israelitischer Lehrer in Bendorf-Sayn, was damals nicht den heutigen Ortsteil Bendorf-Sayn, sondern die getrennten Orte Bendorf und Sayn bezeichnete. (Landes-hauptarchiv Koblenz, Bestand 441, Nr. 13369, S. 297)
- 7Der in Koblenz amtierende Rabbiner Dr. Moritz Singer schrieb dazu 1896, die Lage des jüdischen Religionsunterrichts in der Rheinprovinz sei trostlos, weil viele jüdische Religionslehrer zusätzlich als Kantoren, Schächter, Beschneider oder in noch anderen Ämtern tätig seien und deshalb oft nicht genügend Zeit für den Unterricht hätten. (vergl. Hildburg-Helene Thill: Lebensbilder jüdischer Koblenzer, Koblenz 1987, S. 106
- 8LHA Koblenz 441, 13369, S. 680
- 9„Fünfter Bericht der Israelit. Heil- und Pflege-Anstalt für Nerven- und Gemüthskranke zu Sayn bei Coblenz am Rhein über ihre Tätigkeit vom 1. Januar 1890 bis 31. Dezember 1893*, Koblenz 1894, S. 4. Die Akte LHA Koblenz 655,64, Nr. 613 enthält auf S. 893 die Mitteilung vom 30.07.1871, vor längerer Zeit sei in der Erlenmeyer’schen Anstalt ein gemütskranker gewisser Löwenberg aus Berlin gestorben, der auf dem Bendorfer Jüdischen Friedhof beigesetzt worden sei.