Unter dem Einfluss der Aufklärung hatte sich im 18. Jahrhundert vor allem in Frankreich ein Umdenken im Verhalten gegenüber Mitmenschen, die in irgendeiner Weise beeinträchtigt waren, angebahnt. Dort wurde zum ersten Mal Taubstummen und Blinden aus allen Volksschichten die Tür zur Bildung durch öffentlichen Unterricht geöffnet, und dort wurde ihnen der Weg zu beruflicher Arbeit geebnet. Allmählich entstand auch, von England und Frankreich ausgehend, ein Empfinden dafür, dass psychisch beeinträchtigte Menschen, in Deutschland Irre genannt, nicht nur zu verwahren und zu versorgen waren. Zuvor wurden sie ein- und weggesperrt und nicht selten, wenn sie unruhig oder gefährlich waren, sogar in Ketten gelegt und geprügelt.
Voraussetzung für ein Umdenken war, dass Ärzte psychisch und nervlich bedingte Abweichungen von der Norm als heilbar erkannten. Das deutsche Wort „irre“ legt es nahe, an einen Zustand zu denken, während das französische aliéné eher einen Vorgang bezeichnet; die betroffene Person ist (sich selbst) entfremdet, am Gebrauch der allen Menschen gemeinsamen Vernunft gehindert. Es kommt nun darauf an, wieder Ordnung in ihr Denken und Handeln zu bringen. Dazu sind Ruhe und vertrauensvolles Gespräch mit einem Therapeuten erforderlich. Die Forderung nach der Abschaffung von Zwangsmaßnahmen in der ärztlichen Behandlung lag auf der Hand. Dieser Erkenntnisstand war bereits gegeben, als in den deutschsprachigen Ländern Einrichtungen gegründet wurden, die sich die Heilung Geisteskranker zum Ziele setzten. Sonnenstein bei Pirna, gegründet 1811 in Sachsen, war die erste bedeutende staatliche Einrichtung dieser Art in Deutschland. Als für das Rheinland, also auch für unsere Gegend zuständig, folgte 1825 Siegburg als (Provinzial-)Einrichtung, bei der das Heilen erstes Ziel war. Gründer war Maximilian Jacobi, der dort als Lehrer eine ganze Generation von Psychiatern prägte.
Von der Mitte des 19. Jahrhunderts an entstanden zahlreiche kleinere private Anstalten, die bewusst neue Wege gehen wollten und in der Abgeschiedenheit, im ländlichen Raum, „Asyle“ schufen, in denen körperliche und geistige Ruhe als wichtigste Vorbedingungen für einen Heilungs-prozess gegeben sein sollten. 1848 gründete der Jacobi-Schüler Albrecht Erlenmeyer in Bendorf seine private „Heilanstalt für Gemüths- und Nervenkranke“. Wenige Jahre später, 1857, machte sich sein Assistenzarzt Kaspar Max Brosius selbständig mit seinem „Asyl für Gehirn- und und Pflegeanstalt für israelitische Nerven- und Gemüthskranke“. 1870 folgten schließlich die Dr. Colmantschen Anstalten nur für weibliche Nerven- und Gemüthskranke“ in Bendorf.
Ein regelrechter therapeutischer Optimismus kam auf, der es auch ermög-lichte, dass man die Grenze zwischen heilbarer und unheilbarer Geisteskrankheit als eine fließende erkannte. Standen die privaten Anstalten zunächst nur wohlhabenden Patienten offen, so konnten doch bald durch staatliche Sicherungssysteme, durch die Unterstützung von Fördervereinen und Stiftungen sowie durch Mischkalkulation zwischen aufwen-digerer, teurerer Unterbringung und weniger aufwendiger, preiswerterer Versorgung auch ärmere Patienten aufgenommen werden.
Die privaten Einrichtungen zeichneten sich durch besonders individuelle, aufmerksame und menschliche verstehende Atmosphäre und durch innovative Behandlungsmethoden aus. So setzte Max C. Brosius besonders schnell und gründlich seine in England gewonnenen Erfahrungen mit der ärztlichen Behandlung ohne Zwangsmaßnahmen um. Er propagierte sie in der Übersetzung von John Conollys bahnbrechendem Buch zu diesem Thema und in seinem dazu geschriebenen Vorwort.
Die Verfasserinnen und Verfasser des vorliegenden Buches geben Einblick in die Geschichte der ehemaligen Privatanstalten für „Nerven- und Gemütskranke“ in Bendorf und stellen daneben die für die Region zuständigen staatlichen Provinzialanstalten in Andernach und Bonn vor.
Spannend zu lesen sind die Äußerungen bekannter Psychiater des 19. Jahrhunderts in einer fiktiven Gesprächsrunde, in der unter anderem die überregionale Bedeutung Albrecht Erlenmeyers deutlich wird.
Vorliegende Publikation dient als Begleitschrift zu der Sonderausstellung „Die Heil- und Pflegeanstalten für Nerven- und Gemütskranke in Ben-dorf“, die vom 13. Februar bis zum 10. Mai 2009 im Rheinischen Eisen-kunstguss-Museum in Schloss Sayn präsentiert wird.